Keine Namen niemand

Annette Kufner (Autorin) und Franziska Stuhr (Regisseurin), Deutschlandfunk Kultur

Franziska Stuhr (Regisseurin) und Annette Kufner (Autorin) Preisträgerinnen für das Dokumentarhörspiel "Keine Namen; niemand"
Bettina Theuerkauf/Geisendörferpreis
Franziska Stuhr (Regisseurin) und Annette Kufner (Autorin) Preisträgerinnen für das Dokumentarhörspiel "Keine Namen; niemand"

Begründung der Jury: 

Die Schikanen gegen die Bewohner des sogenannten Nordviertels in dem kleinen Ort im Rheinischen Schiefergebirge, der in diesem Hörspiel Ederswald heißt, beginnen im Sommer 1933: Abends dürfen die Menschen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. SA-Männer stehen vor den Türen und bedrohen sie mit Gewehren, wenn sie vor die Tür treten. Die Bewohner nennen das „die Belagerung“. 

Annette Kufner erzählt in dem dokumentarischen Hörspiel „Keine Namen, niemand“, wie Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus drangsaliert und verfolgt werden – in einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt. Das Hörspiel schildert so anschaulich wie bedrückend, wie die Repressionen unter einem übereifrigen Bürgermeister zunehmen, wie bei den Kindern „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert und die Sterilisierung empfohlen wird. 1943 verschwinden ganze Familien aus dem Nordviertel, sie werden in Zügen abtransportiert. Von 139 Menschen kehren nur elf in den Ort zurück. 

Kufner erzählt nüchtern, gestützt auf zahlreiche Dokumente und Berichte von Überlebenden und deren Nachkommen. Schauspielerinnen wie Birte Schnöink und Ulrich Noethen geben den Zeitzeugen ihre Stimme, ohne sie „nachzuspielen“. Regisseurin Franziska Stuhr hat das Stück sorgsam zurückhaltend mit sparsamem, akzentuiertem Musikeinsatz inszeniert. 

Das Hörspiel dokumentiert - im besten Sinne. Es dokumentiert auch, wie das schreckliche Geschehen später, nach dem Krieg, totgeschwiegen wurde. Kufner macht auf exemplarische Weise deutlich: Viele haben es gesehen, viele haben weggeschaut, einige haben mitgemacht und manche sogar profitiert davon, dass ihre Nachbarn enteignet und deportiert wurden. Nach dem Krieg ging das Unrecht weiter. Die Überlebenden und ihre Familien kämpften jahrelang vergeblich um eine Anerkennung oder eine Entschädigung. Die wenigen verurteilten Täter wurden bald wieder begnadigt. 

Es hat einen guten Grund, dass in diesem Hörspiel die Namen des Ortes und der Menschen, von denen die Rede ist, geändert wurden. Es ist derselbe Grund, aus dem auf dem Gedenkstein, der 2002 in dem Ort zur Erinnerung an die verfolgten Sinti und Roma errichtet wurde, keine Namen stehen: Die Nachkommen der Verfolgten hatten Angst davor, identifiziert und erneut stigmatisiert zu werden. 

In ihrem Hörspiel lässt Kufner den verfolgten Sinti und Roma stellvertretend überfällige Gerechtigkeit zuteilwerden. Ohne zu emotionalisieren, erzählt sie auf eindringliche Weise eine Geschichte, die sich so ähnlich an vielen Orten in Deutschland zugetragen hat. Und über die viel zu lange geschwiegen wurde.