Rede 2004 von Heike Mundzeck

Heike Mundzeck, Mitglied Jury „Kinderprogramme“

Eigentlich sind Feststellung und Frage doch schon überholt. Denn seit mehr als fünfzig Jahren tun die Kinder es einfach, ob das Eltern, Pädagogen und Psychologen nun passt oder nicht. Viel ist über Nutzen und Schaden dieser Freizeitbeschäftigung für Drei- bis Dreizehnjährige – und später sogar für das Stammelalter der Windelträger – diskutiert und geschrieben worden, doch jede neue Generation von Erziehungsberechtigten will – ungeachtet eigener Bildschirm-Erfahrungen im Lernalter – wiederum wissen: Können und dürfen Kinder überhaupt, was sie möchten und machen, nämlich täglich im Durchschnitt eineinhalb Stunden fernsehen?

Trotz Computer und Internet bevorzugen 74 Prozent der Nachwuchs-Nutzer – wie eine gerade veröffentlichte Untersuchung belegt – das Unterhaltungsmedium Fernsehen, die Hälfte davon bereits vor dem eigenen Gerät im Kinderzimmer. Doch unverändert sitzen die Drei- bis Dreizehnjährigen am liebsten und längsten zwischen 18 und 22 Uhr vor dem Bildschirm und sehen dort oft genug Sendungen, die gar nicht für sie gemacht sind. Insgesamt schalten die jungen Zuschauer am häufigsten die Programme der RTL-Senderfamilie ein, als Marktführer bei den Öffentlich-Rechtlichen hat sich allerdings der Kinderkanal deutlich durchgesetzt, der seit einiger Zeit auch bis 21 Uhr sein Programm ausstrahlt.

Wer Kinder fragt, wann ihnen eine Sendung gefällt, hört immer wieder zwei Bewertungen: „spannend“ und „lustig“ muss sie sein. Und damit ist für die jungen Kritiker meist alles gesagt. Beinhalten diese Vokabeln doch alles, was sich von ihnen in diesem Alter in Worten ausdrücken lässt. Nur wer als Erwachsener selbst zuschaut, wenn Kinder fernsehen, erkennt die ganze Wirkungsbreite: Denn auch wenn sie emotional berührt werden, wenn sie eigene Erfahrungen und Gefühle in den Filmgeschichten wiederfinden, sich mit gleichaltrigen Darstellern und ihren Erlebnissen identifizieren können oder Erklärungen erhalten für die Rätsel der Welt, empfinden sie dies als „spannend“ und die häufig tempo- und abwechslungsreiche Gestaltung als „lustig“. Dabei legen sie – und das verstehen viele Erwachsene nicht – ganz andere Maßstäbe an als jene. Denn Kinder lieben Helden, die auf phantastische Weise ihre eigenen oft aus dem Gefühl der Ohnmacht geborenen Träume verwirklichen, die spielerisch Grenzen sprengen und mutig Gefahren und damit verbundene Ängste überwinden. Noch hemmungsloser als Erwachsene geben sich die jungen Zuschauer beim Fernsehen ihren Wünschen an eine Flucht aus einem beengenden Alltag hin, folgen bereitwillig der Aufhebung von Naturgesetzen und erlernten Regeln, um sich für die Dauer einer Sendung sowie das eigene Nachspiel hinterher frei zu fühlen von den Zwängen ihrer unfertigen Existenz und den eigenen Unzulänglichkeiten. Und so verarbeiten sie auch in Kinderprogrammen – verantwortungsbewusst – inszenierte Konflikte, ja sogar aggressives Verhalten, das ihre eigene Ambivalenz anspricht, mit Gewinn für sich selbst, indem sie sich damit beschäftigen und eine persönliche Haltung dazu entwickeln.

Kinder brauchen Bilder und Geschichten zur Welterklärung, und sie brauchen Vorbilder. Beides sollten sie in der Familie finden, in erzählten und geschriebenen Geschichten, und beides k a n n zusätzlich als Anregung zur Auseinandersetzung das Fernsehen liefern. Figuren, die Selbständigkeit und Selbstbewusstsein fördern, die Grundängste (wie Trennung, Tod, Einsamkeit, Ungeliebtsein) thematisieren und überwinden, die Autonomie vermitteln oder Vorurteile abbauen, können als Helfer im schwierigen Prozess des Heranwachsens eine wichtige Rolle spielen.

Doch vom Fernsehen vermittelte Lernvorgänge brauchen immer ein begleitendes Umfeld. Kinder müssen praktisch erfahren und in realen Situationen nachvollziehen können, beziehungsweise von Erwachsenen bestätigt oder differenziert bekommen, was sie auf dem Bildschirm gesehen haben.
Und: jedes Kind reagiert auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen und Lebensumstände unterschiedlich auf ein Fernseherlebnis. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern und Erzieher genau zuhören und den Kindern ihre eigenen Deutungen lassen, ohne sie zu kritisieren oder gar abzuwerten. Mit dem Fernsehen zu leben und zu arbeiten statt dagegen zu opponieren, das aus unserem Leben nicht mehr wegzudenkende Medium positiv zu nutzen, auch bei der Begleitung unserer Kinder ins Leben, ist deshalb die Aufgabe, die sich uns allen stellt.

Bei den Einreichungen zum Robert Geisendörfer Preis hatte es die Jury nicht leicht, aus den vielen ansprechenden, ja auch hervorragenden Sendungen den Preisträger zu ermitteln. Wie so oft in solchen Fällen ist die Vergabe an eine Produktion kein negatives Werturteil gegenüber den anderen. Im Gegenteil. Ich glaube, ich kann für die Jury und die Stifter des Preises sagen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Kinder wollen fernsehen und sollen fernsehen und wir wünschen uns mit diesem neuen Preis dazu beitragen zu können, dass die Aufmerksamkeit der Filmemacher wie der zuschauenden Kinder und Eltern auf Produktionen gelenkt wird, die all das, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen, in originellen Bildern und überzeugenden Texten anbieten. Die bemerkenswerte Zahl der eingesandten Informations- und Dokumentarfilme lässt zudem hoffen, dass Spaß und Spannung von den jungen Zuschauern nicht nur im Fiktion-Bereich gesucht und gefunden werden. „Fernseherziehung“, so darf ich meine Jury-Kollegin Dr. Maya Götz zitieren, „beginnt, wenn ein Kind zum ersten Mal einen Fernseher sieht“. Und sie hört – unter sich ändernden Vorzeichen – eigentlich auch für Erwachsene nie auf.