Rede von Bischof Wolfgang Huber

Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der EKD

Beheimatung im Eigenen – Respekt vor dem Anderen
Zum kulturellen Auftrag der Medien


 

Kultur und Freiheit gehören zusammen. Genau in diesem Sinn ist zu hoffen, dass Medienschaffen ein Teil der Kultur ist. Denn man möchte gern unterstreichen und daran festhalten: Medien und Freiheit gehören zusammen.

Der Begriff der Kultur beschreibt Äußerungen des menschlichen Zusammenlebens, die in der Geschichte von Jahrtausenden dem Menschen erlaubt haben, nicht mehr Sklave und nicht mehr Sklavenhalter zu sein. Sprache, Begegnung, Bilder, Töne – eben alle Formen der Kultur – helfen, nicht mehr abhängig zu sein und nicht mehr abhängig zu machen. Jede kulturelle Äußerung kann und soll auch ein Akt der Befreiung sein. Überall dort, wo Freiheit zu Gunsten einer politisch-exklusiven Meinung, eines verurteilenden Gedankens oder auch nur zu Gunsten wirtschaftlicher Interessen preisgegeben wird, geht auch ein Stück Kultur verloren.

Kultur ist das entscheidende Medium menschlicher Kommunikation. Kultur findet, so haben wir es vor drei Jahren in einer Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland gesagt, in „Räumen der Begegnung“ statt. Kultur schafft „Räume der Begegnung“. Wer in solchen Räumen lebt und wer am Leben anderer teilnehmen will, bekommt es mit den kulturellen Äußerungen anderer zu tun und gewinnt die Chance, sich selbst in die Begegnung mit anderen einzubringen. Beheimatung im Eigenen und Respekt vor dem Anderen sind Grundvollzüge kultureller Existenz.

Das Versprechen, in der Freiheit Heimat zu finden, und die Begegnung mit dem Fremden verbinden Kultur und Religion und bringen sie ins Gespräch miteinander. So entsteht ein eigener „Raum der Begegnung“ zwischen Kultur und Religion. An diesem Gespräch nehmen die Medien auf besondere Weise teil.

Freiheit ist ein Beziehungsgeschehen
Diese Verbindung von Religion und Freiheit gilt für den Wirkungsraum der Reformation in besonderer Weise. Denn die „Freiheit eines Christenmenschen“ gilt als zentrale Parole von Martin Luthers Reformation. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ So heißt die berühmte Doppelthese. Sie macht klar, dass Freiheit ein Beziehungsgeschehen ist und mehr umfasst als nur die Beziehung des Menschen zu sich selbst. Sie verwirklicht sich auf besondere Weise in der Beziehung zu anderen, in allererster Linie zu Gott. Sie wird verfehlt, wo Menschen einander den Raum der Freiheit verweigern. Sie wird verfehlt, wo Menschen einander Freiheit und Würde absprechen. Die Achtung vor dem Fremden und der sorgsame Umgang mit dem eigenen Freiheitsraum gehören zur Freiheit wesentlich hinzu. Medien können wesentlich zu solcher Achtung beitragen. Ja, sie haben heute für solche Prozesse eine Schlüsselrolle.

Wenn die Evangelische Kirche in Deutschland in Erinnerung an Robert Geisendörfer alljährlich einen Preis für Hörfunk- und Fernsehschaffende verleiht, dann sucht und findet sie gerade darin die Begegnung mit denen, die einen wichtigen und prägenden Teilbereich der Kultur unserer Zeit gestalten. Sie zeichnet mit diesem Preis, der an den Gründer des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik erinnert, gerade die aus, die besonders deutlich Vorgänge der Befreiung zum Thema ihrer Arbeit machen und deshalb die Lage derer thematisieren, die keine eigene Sprache finden, die keinen Zugang zu medialen Formen haben oder haben können. Sie will die Verbindung von Kultur und Religion ins Bewusstsein heben und deshalb auch die Verbindung zwischen Kirche und Medien stärken. Sie tut das im Horizont der Freiheit und zeichnet Sendungen aus, die einen solchen Geist der Freiheit atmen und deshalb diejenigen kritisieren, die neue Abhängigkeiten aufbauen oder alte Abhängigkeiten bestätigen wollen.

Kultur: sowohl herausragend als auch trivial
Wer über den Begriff der „Kultur“ nachdenkt, wird schnell begreifen, dass Kultur „ein Schlüsselbegriff dafür [ist], wie Menschen sich in ihrer Welt orientieren. Kultur meint die Gesamtheit von Sinnhorizonten, in denen Menschen sich selbst und ihre Welt mit Hilfe von Worten, Zeichen und Bildern gestalten und sich über ihre Deutungen verständigen“ (Räume der Begegnung, S. 11). Dabei gibt es keine Einschränkung der Formen: Kultur äußert sich in der personalen und medialen Begegnung von Menschen und in den Ausstellungen großer und kleiner Kunstwerke; Kultur äußert sich in den Sportstadien der Bundesliga und in den großen Theaterhäusern unserer Städte; Kultur äußert sich in Open-Air-Konzerten und – dies nicht zuletzt, aber am deutlichsten – in den Massenmedien unserer Zeit, ob gedruckt, zum Hören oder zum Sehen. Und – manche mögen nun erschrecken – Kultur äußert sich sowohl künstlerisch herausragend als auch trivial. Ob komplex, reflektiert oder populär – Kultur interpretiert und erklärt die Welt, in der wir leben: Sowohl das Eigene, des Bekannte, die Heimat als auch das Unbekannte, das Ferne, die Fremde.

Im Nachdenken über die Kultur unserer Tage ist zu erkennen, dass sich dabei die Grenzen zwischen Heimat und Fremde, zwischen Nahem und Fernem verschoben und dabei gerade das Eigene und Bekannte in Frage gestellt haben: „Vertraute Deutungen verlieren an Evidenz. Der allmähliche und plötzliche Verlust von Selbstverständlichkeiten führt zu Irritationen und neuen Fragen“ (ebd.). Was für vergangene Generationen nah und selbstverständlich war, wird fremd und unverständlich, was über Jahrhunderte fremd und exotisch, weil weit entfernt war, findet plötzlich in unserer Nachbarschaft oder auf der Mattscheibe in unserem Wohnzimmer statt. Mit der Globalisierung der Gesellschaft und der noch schneller voranschreitenden Globalisierung der Medien ist die Grenze zwischen Fremde und Heimat undeutlich geworden. Kultur ist noch mehr gezwungen, beide Fremdheitserfahrungen zu erläutern und zu interpretieren: Die Befremdung von außen und die Fremdheit im Eigenen.

Neue Abhängigkeiten durch Schleichwerbung
Diese doppelte Herausforderung – die übrigens Kultur und Religion miteinander verbindet – steht immer in der Gefahr, neue Anhängigkeiten zu schaffen: Die Abhängigkeit, das Eigene zu vergöttern und das Fremde rundherum abzulehnen, die Abhängigkeit, die Seligkeit nur im Fremden zu erwarten und das Hiesige zu verdammen. Durch diese doppelte Herausforderung gerät die Kultur in Gefahr, selbst abhängig zu werden: Wer sich als Kulturschaffender seiner eigenen Freiheit beraubt und auf den „Kunden der Kultur“ schielt, etwa auf Zuhörer- und Zuschauerzahlen, etwa auf verborgene finanzielle Möglichkeiten oder auf den Beifall, wird den Auftrag, den jede und jeder Kulturschaffende hat, nämlich den Menschen das Fremde zu erklären, zu Gunsten anderer Abhängigkeiten verraten.

Dass gerade die elektronischen Medien, die Sie hier vertreten, davor nicht gefeit sind, haben die Recherchen von epd und die Erkenntnisse über Product-Placement in den letzten Wochen und Monaten mehr als deutlich gezeigt. Wer sich selbst in die Abhängigkeit begibt, nur bestimmte farbige Bärchen seinen Gästen anzubieten, den Fernsehzuschauern zu sagen, welches Reisebüro die schönsten Reisen anbietet, welche Sportschuhe die bequemsten sind, beraubt sich selbst und den Zuschauer eines freiheitlichen Aspekts. Dies gilt, davon bin ich überzeugt, für Unterhaltungsshows und für Fernsehserien ebenso wie für Informationssendungen.

Wer sich aus welchem Grund auch immer bindet, verliert für sich selbst ein wichtiges Stück der Freiheit. Wer dabei dem anderen, dem „Empfänger“ nicht einmal sagt, dass er sich gebunden hat, beraubt auch ihn seiner Freiheit und leitet ihn in neue Abhängigkeiten.

Das Triviale, so ist mein Eindruck, unterliegt dieser Gefahr in besonderem Maß. Wer Leben in Form einer Fernsehserie zeigen will, ob „verliebt in Berlin“, „unter uns“, in „guten Zeiten, schlechten Zeiten“, auf dem „Marienhof“ in der „Lindenstraße“ oder in der Begegnung mit „Bianca“, muss sich bewusst sein, dass er auch nicht um der Quote willen die Zuschauer verdummen oder im Unklaren lassen kann. Gezeigt wird den Zuschauern eine Welt, die nicht ihre eigene ist, aber ob der – manchmal erschreckenden – Ähnlichkeit auf Kosten des Realitätsbewusstseins zur eigenen werden kann.

Das Recht der Fernsehrichter
Gerade wenn in unserer Mediengesellschaft das Triviale von einer manchmal erdrückenden Präsenz ist, müssen die Programmverantwortlichen sich ihrer Verantwortung bewusst sein. Millionen Menschen empfangen heutzutage ihre scheinbaren Informationen über das, was Recht ist, von „Barbara Salesch“ und „Alexander Hold“. Gesagt wird ihnen das, was Moral ist, von „Jürgen Fliege“ und „Oliver Geissen“. Millionen Menschen lassen sich von Verfilmungen der Romane von Rosamunde Pilcher rühren oder von Spätvorstellungen in Schrecken oder erotische Stimmung versetzen.

Millionen von Menschen entkommen ihrer Wirklichkeit und hören Rundfunk, der so stark auf Musik hin formatiert ist, dass die eingestreuten Informationen über die Welt, in der wir leben, nur noch als störend empfunden werden. Wenn dabei das musikalische Angebot grundsätzlich nicht in deutscher Sprache und musikalisch auf einem Niveau von vier oder fünf rhythmisch harmlos verbundenen Akkorden bleibt, führt auch der Rundfunk, der davor auf den ersten Blick eher gefeit zu sein scheint, in neue Abhängigkeiten, statt aus ihnen zu befreien.

Auflagen und Quoten lassen nicht automatisch auf hohe Qualität schließen. Doch zugleich steht die Überzeugungskraft des Trivialen außer Frage. „Das Triviale stiftet Gemeinschaft und begleitet die Menschen durch ihren Alltag, es nimmt sie in ihrem Bedürfnis nach Nähe und Entdifferenzierung ernst“ (a.a.O., S. 37). Aber niemand sollte vergessen: Es ist noch nicht das wirkliche Leben, wenn Herz sich auf Schmerz reimt und Liebe auf Triebe. Es ist noch nicht das wirkliche Leben, wenn im „Marienhof“ ein Reisebüro betrieben wird oder „Bianca“ nach ihrer Liebe sucht. Es hat wenig mit dem Leben zu tun, wenn ein unscheinbares Mauerblümchen „verliebt in Berlin“ und in einen Modezar ist. Wer aber die Scheinwelt des Studios und die Wirklichkeit vor unseren Haustüren verschmelzen lässt und in diese Verschmelzung auch noch unlauter Werbung einschleichen lässt – Schleichwerbung –, macht sich eines Verrats schuldig.

Wo Kultur nur genutzt wird, unsere Welt weiter zu kommerzialisieren, werden Menschen gehindert, mit Kultur die Welt zu verstehen. Werbung, wie wir sie kennen, kann durchaus ein Teil unserer Kultur sein. Schleichwerbung jedoch versteckt sich im Gewand eines anderen Angebots, einer anderen kulturellen Form. Das trübt einzig und allein das Urteilsvermögen derer, die häufig ihren Zugang zum Leben, zum eigenen wie zum fremden, über die elektronischen Medien finden.

Die Aufgabe der Kritik braucht Zeit
Daneben stehen die Programmverantwortlichen in allen Sendern vor der Herausforderung, uns Zuschauer nicht nur mit dem Trivialen, sei es noch so gut gemacht, zu überschwemmen, sondern auch Räume für die kritische Auseinandersetzung mit unserer komplexen Wirklichkeit freizuhalten.
Diese Aufgabe braucht Zeit. Reportagen, Features, ausführliche Kommentare und Streitgespräche, die nicht nur unterhalten wollen, passen weder in das Wenige-Minuten-Format eines Hörfunksenders, der nicht stören will, noch in das nach festem Rhythmus ausgerichtete Fernsehprogramm – etwa in einen Rhythmus, in dem Morde – und damit Lebensschicksale – in 60 Minuten bei drei Werbeunterbrechungen zu klären sind. Wo dagegen Zeit zur Verfügung steht und gut genutzt wird, kann es gelingen, den Menschen das zu bieten, was Aufgabe der Kultur ist und bleibt: die eigene Individualität nicht als Selbstabschließung misszuverstehen, sondern auch auf andere Menschen zu achten, den Fremden mit Respekt zu begegnen und gerade so im Eigenen Heimat zu finden.
Nicht nur in kleinen, sondern auch in großen Formen können so Geschichten vom gelingenden Leben erzählt werden. Zu den Geschichten vom gelingenden Leben gehört auch die Schilderung des Scheiterns. In wirklich guten Geschichten wird auch mit dem Scheitern umgegangen, werden die Wege gezeigt, wie auch im Scheitern Würde erlebt und erkannt werden kann. In guten Geschichten wird auf den Voyeurismus verzichtet, dem das Verstehen gleichgültig ist. Es wird stattdessen gezeigt, was hinter einer klaffenden psychischen und physischen Wunde verborgen ist.

Der Andere: das Eigene
Fremd ist uns vieles in unserer Nachbarschaft einer multinationalen, multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft, fremd ist uns aber manches, was in unserer Gesellschaft, in unserer Religion, in unserer Kultur sich ereignet. Die Gesellschaft braucht Redakteure, Reporter, Journalisten, Filmemacher, Kameraleute, Regisseure und Tontechniker, die den Mut haben, das, was der Gesellschaft unbekannt geworden ist, wieder zu öffnen.

„Die Wahrnehmung des Anderen kann zur Bedingung der Beheimatung im Eigenen werden“, heißt es in der Kulturdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, die unter dem Titel „Räume der Begegnung“ im Jahr 2002 erschienen ist.
Der Robert Geisendörfer Preis zeichnet Produktionen und ihre Macher aus, die sich auf diesen schweren Weg gemacht haben. Manchmal, selten genug, sind es Produktionen, die in der Prime-Time zu sehen oder zu hören waren. Ganz selten sind es sogar Produktionen, die es geschafft haben, im Trivialen und Populären solche Geschichten zu erzählen. Häufig sind es jedoch Produktionen, die sozusagen am Rand des Programms ausgestrahlt werden – für besonders Interessierte, für die, die schon mehr wissen oder zumindest ahnen, für die Nimmermüden. Es sind häufig Angebote, die nicht die großen Quoten machen. Der Robert Geisendörfer Preis macht auch auf Sendungen aufmerksam, die verteidigt werden müssen, weil in ihnen nicht nach Quote, Geld und Gefälligkeit geschielt wird, sondern weil in ihnen geschieht, was Kultur ehrt und auszeichnet.

Mein Dank gilt deshalb zuerst den Sendern, die wieder zahlreiche Beiträge für den Robert Geisendörfer Preis eingesandt haben. Mein Dank gilt den beiden Jurys, die sich tagelang Zeit genommen haben, um die Beiträge zu sichten. Namentlich möchte ich die beiden Juryvorsitzenden nennen: Landesbischof Ulrich Fischer als Gesamtvorsitzenden des Preises und den Rundfunkbeauftragten des Rates der EKD, Bernd Merz, als Vorsitzenden für den Kinderpreis. Mein Glückwunsch gilt all denen, denen nun ein Preis verliehen wird. Machen Sie weiter so! Wir brauchen Sie!